Der Ringfinger

von Yoko Ogawa

Über

Sie ist jung, arbeitslos, ohne Familie. Eines Tages sieht sie an einem alten Gebäude die Anzeige: "Bürokraft für die Betreuung unserer Präparate gesucht." Herr Deshimaru, ihr neuer Chef, dem "jedes persönliche Merkmal zu fehlen" scheint, präpariert und archiviert alles, was Kunden ihm bringen. Nur noch zwei ältere Frauen wohnen in dem 403 Zimmer umfassenden, ehemaligen Mädchenwohnheim. Von ihnen erfährt die junge Frau, dass frühere Bürokräfte auf stets unerklärliche Weise irgendwann verschwanden.

Ein kleines Buch mit gut 100 Seiten, aber die haben es in sich: Nach Hotel Iris ist dies der zweite ins Deutsche übersetzte Roman der jungen und schon mehrfach ausgezeichneten Japanerin. Auch hier steht ein ungewöhnlich ungleiches Paar im Mittelpunkt. Auch hier erliegt eine junge Frau den besonderen sexuellen Neigungen eines älteren Mannes. Aber Dichte, Kompaktheit, Intensität und Spannung sind in Yoko Ogawas neuem Roman deutlich ausgeprägter, noch subtiler und noch fesselnder.

"Eine Person, die kein Präparat braucht, existiert nicht", sagt Deshimaru und konserviert sogar Narben und Töne einer Partitur liebevoll in Reagenzgläsern. Erinnerungen, die abgegeben werden, um zu vergessen? Ein Problem, dessen man sich auf diese Weise entledigt? Oder gewinnt der, der das Präparat erstellt Gewalt über einen Menschen? Schließlich fragt die junge Frau: "Könnte ich selbst nicht ein Präparat werden, das ganz dir überlassen wird? ... Ich will nicht frei sein."

Zurückhaltend, zart und ausgesprochen sanft ist die Erzählweise, als wären Worte zerbrechlich. Jede kleine Szene erscheint zierlich wie eine japanische Tuschezeichnung. Um so erstaunlicher und überraschender die gewaltige Reaktion, die ein so graziler Text auslöst, eine kleine Geschichte aus einer anderen Welt, ein japanisches Kleinod. --Barbara Wegmann

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