Gedichte in einem Band

von Christian Morgenstern

Über

Brehm mag das Tierleben katalogisiert haben, ehrenhaft genug. Der Münchner Dichter Christian Morgenstern (1871-1914) jedoch hat ein ganzes Bestiarium skurriler Viecher sprachlich erst geschaffen. Hier ist die Darwin'sche Evolution außer Kraft gesetzt; mögliche Mutationen der Maulwurfsstute, des Wassernumpfs oder der Phosphorspinne treiben nur Laut und Reim voran. Kreaturen wie der Werfuchs, der ganz aus Wörtern gemacht ist, ist auch nur durch Wörter zu erlegen. "Ich danke Dir, Herr Morgenstern, / du hast mich so geschaffen", heißt es in dem entsprechenden Gedicht "Werfuchsjagd", "Der Lämmergeier ist bekannt, das Geierlamm erst hier genannt" in einem anderen. Hat man das tierisch komische Poem erst einmal aus der Hand gelegt, so steht zu fürchten, wird man vom Geierlamm so schnell nichts mehr hören.

In Hundert Gedichte nimmt uns der Germanist Frank Möbius mit auf Wort-Safari durch Morgensterns bunte Welt mit ihren ästhetischen Wieseln, Wer-Wie-Waswölfen, Nulel-ants, Nasobems oder Palmströms Muhme Palma Kunkels Papagei. Und er nimmt uns mit zu unbekannten, dunklen und gedankenschweren Kontinenten des "Planeten Morgenstern", die bisher als Terra incognita fungierten: Hier senkt sich das "Vöglein Schwermut" etwas lähmend auf die wortgewaltige Dichterseele, zeigt sich der Verfasser der Galgenlieder als unmittelbarer Vorfahre der stakkatohaften Wortdichtung August Stramms ("Der Schuss") oder des pathetisch-expressionistischen O-Mensch-Stils ("Erster Schnee"). An die Bravour prä-dadaistischer Lautgedichte wie "Das Große Lalula" freilich kommt dies nicht heran.

Was bleibt, stiften ja bekanntlich nicht die Biologen, sondern die Dichter. Aber wie viel von dem, was die Dichter stiften, muss die Artenvielfalt lyrischer Ergüsse überleben? In der Hundert Gedichte-Reihe des Aufbau-Verlags, in der auch schon wohlfeile Bändchen zu Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke und Eva Strittmatter erschienen, ist die Frage quantitativ vielleicht zu eindeutig festgelegt. Denn ob wirklich alle 100 versammelten Texte hätten aufgenommen werden müssen oder ob es nicht besser gewesen wäre, dem ein oder anderen Werk der Gymnasiastenzeit den Eingang zur Arche Morgenstern zu verweigern (um stattdessen lieber die fehlende, von Gert Fröbe in Morgenstern am Abend so herrlich interpretierte Hausschnecke mitzunehmen), sei einmal dahingestellt: So lange in der Flut von Neuerscheinungen durch derartige Publikationen allerdings auch nur der Sündfloh überlebt, ist schon viel gewonnen. --Thomas Köster

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