Der deutsche Patient

von Paul Brandenburg

Über

Kinder gehen nicht zum Arzt. Sie müssen ihm vorgeführt erden. Gleiches gilt für Katzen. Kinder und Katzen sind schlau. Erwachsene Menschen oft nicht. Wenn Erwachsene ihre Kinder einem Arzt «vorführen», ist oftmals der falsche von beiden in der Patientenrolle.
«Gestern ist er auf dem Spielplatz gestürzt und hat sich das Knie angeschlagen!»
Mutter streichelt Sohnemann über die Stirn.
«Zeig dem Doktor mal das Knie, Lukas.»
Aber Lukas denkt nicht daran. Lukas ist verzweifelt. Diese Verräterin von Mutter. Wem hat sie ihn da nur ausgeliefert? Seit er den weißen Kittel sah, lähmt sein Fluchtinstinkt sein Bewusstsein.
«Ah ja. Gestern.» Dem Arzt geht es ähnlich wie Lukas. «Und was führt Sie nun in unsere Rettungsstelle? Heute?»
«Na, es tut ihm immer noch weh natürlich!»
Mutter beginnt sich vorsorglich zu entrüsten.
«Verstehe. Also ist es seit gestern schon besser geworden?»
«Ja, schon, aber es ist halt noch nicht wieder gut! Ich will das jetzt mal abklären lassen. Es sollte geröntgt werden!»
Mutter kennt sich aus. Den Ärzten von heuten muss man sagen, wo es langgeht. Welches andere Säugetier, denkt sich der Arzt von heute, käme auf die Idee, seinen Nachwuchs nach einer kleinen Prellung vorsorglich erbgutschädigender Strahlung auszusetzen? Egal. Mutter ist mit gesundem Menschenverstand nicht beizukommen. Für den Nachwuchs besteht vielleicht Hoffnung.

Erschienen

2015

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